Wenn du auf diesen Artikel gestoßen bist und dich bisher noch nicht mit moderner, kommerzieller Spiritualität und Konzepten wie Vergebung oder Manifestation beschäftigt hast, wirst du vielleicht gleich ein wenig stutzen. Denn das, was du hier lesen wirst, klingt mindestens ungewohnt. Vielleicht sogar etwas skurril. Und doch gehört Vergebung heute zu den populärsten Konzepten in der Coaching-Welt und in esoterischen Kreisen.
Wenn wir an Vergebung denken, dann vermutlich im Zusammenhang mit einem Streit oder einer Kränkung, die uns über längere Zeit beschäftigt. Für die meisten von uns ist sie ein ganz selbstverständlicher Vorgang, geprägt vom Religionsunterricht in der Kindheit, der Erziehung oder Erfahrungen im Alltag mit Freunden und Familie. Sie taucht gelegentlich auf, ganz ohne spezielle Techniken oder Regeln. Entweder vergeben wir oder eben nicht, und beides ist völlig in Ordnung.
In der modernen Spiritualität, wie du sie auf Social Media oder in Podcasts findest, wird Vergebung jedoch anders vermarktet: als universelle Lösung zu einem erfüllten Leben. Als eine Methode, die vermeintlich immer funktioniert, unabhängig davon, was tatsächlich geschehen ist. In diesem Artikel sehen wir uns an, wie Vergebung heute vermittelt wird und warum genau das nicht so harmlos ist, wie es scheint.
Eine vermeintlich „spirituelle Pflicht“. Coaches ohne therapeutische Ausbildung vermitteln sie als angeblich universelle Lösung für nahezu alle Probleme.
Ein möglicher Schritt innerhalb eines therapeutischen Prozesses. Sie wird individuell begleitet, ist keinesfalls verpflichtend und richtet sich stets nach dem persönlichen Empfinden und der individuellen Situation.
Ein moralischer Akt, der auf Nächstenliebe basiert. Man entscheidet selbst, ob man vergeben möchte oder nicht. Es gibt keine festen Vorgaben, wann oder wie dies geschehen sollte.
Was soll das Konzept der Vergebung sein?
Vergebung spielt in vielen Bereichen eine Rolle: sei es in persönlichen Beziehungen, in religiösen Traditionen oder in der Psychotherapie. In der Psychotherapie wird sie oft als ein Prozess betrachtet, der individuell begleitet wird. Dieser Prozess braucht Zeit, darf Widersprüche enthalten und muss nicht zwangsläufig in Vergebung münden. Manchmal entsteht Vergebung im Laufe einer Therapie, manchmal nicht. Beide Ergebnisse sind gleichermaßen akzeptiert und wertvoll.
Um diese therapeutische Form der Vergebung geht es in diesem Artikel jedoch ausdrücklich nicht. Stattdessen werfen wir einen kritischen Blick auf Vergebung, wie sie in der modernen, kommerziellen Spiritualität dargestellt und verkauft wird:
Einige esoterische Strömungen beziehen sich auf das hawaiianische Ho’oponopono, ursprünglich ein gemeinschaftlich durchgeführtes Ritual, bei dem Konflikte in der Familie oder Gemeinschaft geklärt und gemeinsam Verantwortung übernommen wurde. Es war ein sozialer, dialogischer Prozess, bei dem es darum ging, Heilung im Miteinander zu ermöglichen, und basierte traditionell auf den vier Schritten Reue, Vergebung, Dankbarkeit und Liebe.
In der heutigen Welt der modernen Spiritualität und ihrer Influencer:inn ist davon jedoch nur ein kleines Bruchstück geblieben. Vergebung wird hier als individuelle Technik gelehrt, losgelöst von konkreten Situationen und professioneller Begleitung. Es geht nicht mehr darum, ob etwas verletzend war oder Grenzen überschritten wurden, sondern nur noch darum, innerlich loszulassen. Wer vergeben kann, gilt als spirituell weiterentwickelt. Wer es nicht schafft, als blockiert. Vergebung wird auf diese Weise zu einer spirituellen Leistung umfunktioniert.
Vergebung als Pflicht zur Heilung – und warum genau das problematisch ist
Influencer:innen und Coaches, die kommerzielle Spiritualität vermitteln, nutzen Vergebung fast täglich in Posts, Podcasts oder Programmen als vermeintlichen Schlüssel zur Heilung. Es sei der Schlüssel für ein glückliches Leben und man könne die Vergangenheit endlich loslassen. Und genau das kann problematisch sein.
- Mehr Pflicht als Option: Vergebung klingt friedlich und harmonisch, doch in der kommerziellen Spiritualität wird sie oft zur moralischen Pflicht erklärt. Es entsteht der Eindruck, man müsse vergeben, weil es Teil der Spiritualität sei. Wer nicht vergeben kann oder möchte, fühlt sich häufig blockiert, unvollständig oder sogar schuldig. Der natürliche, persönliche Prozess wird dadurch zu einer belastenden Aufgabe.
- Ohne Berücksichtigung individueller Umstände: Vergebung wird für jede Situation empfohlen, auch bei tiefen familiären Konflikten oder traumatischen Erlebnissen. Persönliche Gefühle und die individuelle Geschichte werden dabei selten berücksichtigt. Das erzeugt zusätzlichen emotionalen Druck, der Betroffene innerlich stark belasten kann.
- Ohne therapeutisches Fachwissen: Viele Coaches und Influencer:innen bieten Vergebungskurse oder Meditationen an, ohne über eine psychologische oder therapeutische Ausbildung zu verfügen. Diese Technik greift unter Umständen tief in persönliche Erfahrungen ein und das kann Traumata aktivieren oder verschlimmern. Ohne professionelle Begleitung kann das für Betroffene belastend und sogar gefährlich sein.
- Belastend statt hilfreich: Wer nicht vergeben kann, wird oft für das eigene Leid verantwortlich gemacht. Für Menschen, die emotional ohnehin belastet sind, erhöht diese Sichtweise den Druck zusätzlich und kann Schuldgefühle sowie das Gefühl, nicht gut genug zu sein, hervorrufen oder verschlimmern.
- Passivität statt Auseinandersetzung: Statt sich mit einer Situation konkret auseinanderzusetzen, wird Loslassen zur Lösung erklärt. Vor allem für Frauen entsteht dabei ein gefährliches Ideal: still, verständnisvoll, versöhnlich. Doch echte Selbstbestimmung heißt auch, Grenzen zu setzen. Wütend sein zu dürfen. Nein zu sagen. Kritisch zu sein. Oder das Gespräch zu suchen, um Situationen zu klären.
- Keine Kontrolle, keine Verantwortung: In der Psychotherapie gelten klare ethische Standards. In der kommerziellen Coaching- und Influencer:innen-Welt hingegen gibt es keine Regularien. Vergebung wird nicht zu einer Befreiung, sondern zu einer Voraussetzung. Wer sie nicht schafft, bleibt allein zurück. Und kauft bestenfalls den nächsten Kurs.

Vergebung als Verkaufsstrategie – Warum es sich so gut vermarkten lässt
Vergebung klingt sanft und lässt sich leicht vermitteln. Vor allem aber lässt sie sich gut verkaufen. Das Konzept wird nicht nur für einzelne Themen genutzt, sondern als Lösung für fast alles angeboten. Ob Beziehungsprobleme, Kindheitsthemen oder innere Unruhe, Vergebung soll immer helfen. Erst wird ein Mangel benannt, dann das Gefühl verstärkt, nicht frei oder vollständig zu sein. Am Ende folgt das Versprechen, dass Vergebung alles lösen kann.
Das funktioniert so gut, weil Vergebung den Blick nach innen richtet. Statt zu fragen, was im Außen falsch läuft, ob man mit der Person nochmal in den Austausch gehen sollte oder wo echte Veränderungen nötig wären, sollen Menschen sich selbst verändern. Wer sich schlecht fühlt, hat dann noch nicht genug vergeben. Wer wütend ist oder sich abgrenzt, gilt als blockiert. So wird aus einem persönlichen Thema ein moralisches Urteil – zeitgleich und ein Geschäftsmodell.
Weil echte Vergebung oft schwer ist, bleibt meist das Gefühl, nicht weit genug zu sein. Wer sich blockiert fühlt, sucht weiter. Und wer sucht, kauft. Gleichzeitig entsteht ein klares Idealbild: ruhig, verständnisvoll, freundlich. Menschen, die sich abgrenzen, Kritik äußern oder sich laut wehren, passen nicht in dieses Bild. Vergebung wird dadurch zur Verhaltensvorgabe. Und wer trotzdem zweifelt, soll natürlich auch das vergeben. Denn Kritik ist nicht vorgesehen.
Fazit: Kein klassischer Bestandteil von echter Spiritualität – und erst recht kein harmloses Konzept
Das Wichtigste vorweg: Vergebung gehört nicht zur klassischen Spiritualität. Es ist auch kein universeller Schlüssel zur Heilung, sondern ein Konzept, das sich nachweislich gut verkaufen lässt. Ein Beispiel: Eine Influencerin hat mit einem Online-Kurs zur Vergebung rund 5 Millionen Euro Umsatz erzielt. Zum Vergleich: Eine approbierte Psychotherapeutin müsste über 40 Jahre lang arbeiten, um auf diesen Betrag zu kommen. Und das mit fundierter Ausbildung, Supervision und klaren ethischen Standards.
Was nach Heilung klingt, kann wie erwähnt problematisch sein und unschöne Auswirkungen haben. Vergebung wird von Menschen ohne psychotherapeutische Ausbildung als Voraussetzung suggeriert, um frei zu sein oder sich weiterzuentwickeln. Dabei wird übersehen, dass manche Verletzungen nicht vergeben werden können oder sollten. Und dass es nicht Aufgabe der Betroffenen ist, sich selbst zu heilen, um anderen vergeben zu können.
Auch ein genauerer Blick auf die Anbieter:innen selbst lohnt sich. Wer genau hinsieht, bemerkt schnell einen Widerspruch: Ausgerechnet die Menschen, die Vergebung als spirituelle Praxis verkaufen, leben sie selbst kaum. Kritik an ihren Angeboten wird nicht mit Verständnis und Vergebung beantwortet, sondern mit juristischen Konsequenzen. Selbst Kundinnen, die sich z. B. in Dokus sachlich und offen als unzufrieden äußern, erleben, dass sie als Angreiferinnen dargestellt werden, die nur schaden wollen.
Tipp: Wenn du dich mit dem Gedanken tragen solltest, Vergebungsrituale aus der modernen Spiritualität zu lernen und umzusetzen, dann bitte niemals unter Druck. Und nicht, weil es sich harmlos und einfach anhört. Vor allem nicht in einem pauschalen Onlinekurs ohne professionelle, therapeutische Begleitung. Wer durch schmerzhafte Erfahrungen gegangen ist oder noch darunter leidet, sollte sich therapeutisch begleiten lassen.
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