Vielleicht sind sie dir auch schon begegnet: diese kurzen, positiven Sprüche für mehr Selbstwert und Lebensglück. „Ich bin gut genug.“ „Ich habe das Recht, geliebt zu werden.“ „Das Universum ist auf meiner Seite.“ Affirmationen tauchen heute fast überall auf: in Podcasts, in Online-Kursen, im Yoga-Studio, in der modernen Spiritualität, auf Social Media oder pastellig weich gestalteten Kartensets und Kalenderblättern.
Mit präzisen Anleitungen versehen, sollen die Sprüche über Wochen hinweg täglich wiederholt werden, am besten mehrfach, um ihre Wirkung zu entfalten. Aber warum eigentlich? Warum wird vermittelt, dass es notwendig sei, sich ständig etwas einzureden, unabhängig von persönlichen Umständen? Gerade in einer Gesellschaft, die so viele Möglichkeiten zur Entfaltung bietet, wirkt es fast paradox, dass wir uns daran erinnern sollen, etwas wert zu sein oder Glück zu verdienen.
Darum soll es in diesem Artikel gehen. Nicht um ein Urteil, sondern um ein genaueres Hinsehen: Woher kommt diese Praxis? Warum hat sie sich so verbreitet? Und was macht sie mit uns?
Die Geschichte der Affirmationen
Affirmationen haben ihre Wurzeln in der New Thought-Bewegung des späten neunzehnten Jahrhunderts in den USA. Schon damals entstand die Idee, dass Gedanken die Realität formen können. In den achtziger Jahren griff Louise L. Hay diesen Ansatz auf und machte ihn durch ihre Bücher massentauglich. Sie verbreitete die Vorstellung, dass positive Aussagen nicht nur die Stimmung verbessern, sondern sogar die Gesundheit beeinflussen können.
Heute sind Affirmationen aus der modernen Spiritualität und Coaching-Welt kaum mehr wegzudenken. Aus einer ursprünglich spirituellen Praxis wurde ein wirkungsvolles Marketinginstrument, oft mit der Inszenierung eines scheinbar erfüllten Lebens verknüpft.
Warum lässt sich das Konzept „Affirmationen“ so gut verkaufen?
In einer unruhigen Zeit wirken einfache Antworten auf komplexe Probleme besonders verlockend. Affirmationen versprechen genau das: mehr Selbstwert, Selbstliebe, Glück, Erfolg oder Fülle. Mit wenigen Worten wird die Hoffnung genährt, sich selbst etwas Gutes zu tun und das eigene Leben in eine bessere Richtung zu lenken.
Oft begegnen sie uns harmlos verpackt, manchmal sogar kostenlos, als freundlicher Einstieg in eine friedliche Gedankenwelt. Doch genau darin liegt auch ihr Prinzip: Affirmationen sind der leichte Zugang in eine meist größere Produktwelt.
Während sie in der Psychologie individuell angewendet werden, sind sie hier zum pauschalen Werkzeug geworden. Früher waren es Gebote oder Gebete, heute sind es Sprüche, die man sich wie ein Mantra immer wieder selbst vorliest; in der Hoffnung auf mehr Selbstliebe, Erfolg und Glück.
Psychologisch betrachtet sind Affirmationen allein kaum geeignet, um ein geringes Selbstwertgefühl zu verändern (vgl. Universität Zürich, Psychologie)
– Psychologisches Institut, Universität Zürich (Quelle)
Was Affirmationen problematisch macht
Hier ein paar Beispiele, die zeigen, warum Affirmationen nicht immer so harmlos sind, wie sie wirken.
Sicherheitsversprechen
☆ Beispiel: „Ich bin in jeder Situation vollkommen sicher.“
ᐅ Problematisch, weil: Es vermittelt falsche Sicherheit in einer unsicheren Welt. Anstatt Unsicherheiten auszuhalten oder Lösungen zu suchen, wiegt man sich in einem Gefühl der Unverwundbarkeit. Das kann gefährlich werden, wenn es ernst wird.
Manifestationsversprechen
☆ Beispiel: „Fülle und Reichtum fließen mühelos in mein Leben.“
ᐅ Problematisch, weil: Es suggeriert, dass äußere Umstände allein durch Gedanken beeinflusst werden können. Das blendet strukturelle oder gesellschaftliche Hürden völlig aus und führt dazu, dass Menschen glauben, sie selbst seien schuld, wenn es nicht funktioniert.
Schuldumkehr
☆ Beispiel: „Alles, was mir widerfährt, habe ich selbst erschaffen.“
ᐅ Problematisch, weil: Es kehrt die Verantwortung komplett um. Menschen, die ohnehin schon in schwierigen Situationen stecken, wird eingeredet, sie seien selbst schuld an ihrem Leid. Das ist psychologisch belastend und schlicht falsch.
Überhöhung des Selbstbildes
☆ Beispiel: „Ich bin außergewöhnlich und verdiene nur das Beste im Leben.“
ᐅ Problematisch, weil: Solche Sprüche können ein verzerrtes Selbstbild fördern. Sie setzen den Anspruch, dass man nur Außergewöhnliches verdient, und lassen dabei normale Herausforderungen oder Rückschläge als persönliches Versagen erscheinen.
Dauerhafter Optimierungsdruck
☆ Beispiel: „Ich wachse jeden Tag über mich hinaus.“
ᐅ Problematisch, weil: Dieser Anspruch suggeriert, dass ständige Weiterentwicklung notwendig ist. Das kann auf Dauer überfordern und das Gefühl verstärken, nie gut genug zu sein.
Widersprüchliche Aussagen
☆ Beispiel: „Ich lebe ganz im Hier und Jetzt.“ und gleichzeitig: „Ich visualisiere täglich meine perfekte Zukunft.“
ᐅ Problematisch, weil: Diese Aussagen widersprechen sich. Man kann nicht gleichzeitig vollkommen im Moment leben und gedanklich ständig in die Zukunft reisen.

Fazit: Ein ständiges Mantra bleibt trotzdem nur ein Mantra
Affirmationen versprechen, unseren Selbstwert zu stärken und uns ein besseres Gefühl zu geben. Auf den ersten Blick klingt das nachvollziehbar, denn wer wünscht sich nicht mehr innere Stärke oder Erfüllung. Aber genau hier liegt die Schwierigkeit: Affirmationen legen nur einen freundlichen Deckel auf tieferliegende Unsicherheiten, ohne die eigentlichen Ursachen zu berühren. Die Probleme verschwinden nicht, sie werden lediglich verdrängt.
Mit etwas Abstand betrachtet ist dieser Prozess eigentlich ziemlich unnatürlich, oder nicht? Dass wir uns als erwachsene Menschen täglich mehrfach selbst versichern müssen, liebenswert zu sein oder Erfolg zu verdienen, scheint ein stilles Symptom dafür zu sein, wie sehr wir an unserem Selbstwert festhalten.
Trotzdem wird genau das als scheinbar spirituelle Praxis verkauft, obwohl Affirmationen mit klassischer Spiritualität wenig zu tun haben. Affirmationen sind kein innerer Weg, sondern ein kommerzielles Werkzeug zur kurzfristigen Selbstberuhigung, das leicht konsumierbar ist und sich gut vermarkten lässt. Gerade deshalb lohnt es sich vielleicht, sich einmal zu fragen: Warum brauche ich diese tägliche Selbstbestätigung überhaupt? Und was liegt eigentlich unter dem Deckel, den ich so festhalte?
Interessante Links
- Psychologisches Institut Universität Zürich: „Ich bin so schön, ich bin so toll… und jetzt noch schlechter drauf!„
- National Geographic: Toxic Positivity: Warum zu viel Optimismus schaden kann
- Wissenschaft.de: Die Wissenschaft hinter positiven Affirmationen
- Stangl-Taller: Positives Denken – Eine Kritik
- Youtube: Reich durch Affirmationen – Die Money-Machine der Coaches
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